Beliebte Posts

Mittwoch, 4. August 2010

Venöse Multiple Sklerose | CCSVI

Multiple Sklerose durch venöse Störung? Daran gibt es immer mehr Zweifel

MS-Patienten haben einen abnormen venösen Blutfluss im Gehirn - darauf weisen Studien mit modernen bildgebenden Verfahren bei MS-Patienten. Deutsche Forscher zweifeln jedoch an den Ergebnissen. Unklar ist auch, ob die vermuteten venösen Störungen Folge oder Ursache einer MS sind.

Von Martin Wiehl und Thomas Müller

Venöse Insuffizienz als (eine) Ursache von MS? Darüber wird kontrovers diskutiert.

© Sebastian Kaulitzki / fotolia.com

TORONTO. Eine neue Theorie zur Entstehung von Multipler Sklerose treibt bereits seltsame Blüten. So lassen sich manche MS-Patienten in den USA schon Stents in ihre Jugular-Venen einbauen, aus Furcht, sie könnten nicht mehr genug Blut durchlassen. Der Grund: Nach neuen, heftig diskutierten Daten könnte ein Rückstau des venösen Blutflusses im Gehirn die MS verschlimmern oder sogar auslösen. So weisen sowohl extrakranielle wie auch intrakranielle Venen von Menschen mit MS offenbar erhebliche Veränderungen auf - behaupten zwei Forschergruppen aus Italien und den USA.

Die Störungen, die sie als "chronische zerebrospinale venöse Insuffizienz" (CCSVI) bezeichnen, hätten sie jetzt durch neuere bildgebende Verfahren sichtbar gemacht. Die Beobachtungen sorgten vor kurzem auf dem Kongress der US-Neurologengesellschaft AAN in Toronto für viel Aufsehen und heftige Diskussionen. Die Kritiker der "venösen Hypothese" erhalten jetzt jedoch Unterstützung von Neurologen der Charité in Berlin: Sie konnten in einer aktuellen Studie keine relevanten Veränderungen im venösen Blutfluss zwischen MS-Kranken und Gesunden beobachten.
Verringertes Venenvolumen im Gehirn von MS-Kranken

Die Befürworter der CCSVI-Hypothese behaupten, dass zum einen das Gesamtvolumen der intrakraniellen Venen bei MS deutlich vermindert ist. Darunter fallen besonders die kleinsten Venen. Zudem wird vermutet, dass MS-Patienten eine chronische venöse Abflussstörung haben, die durch Stenosen in den extrakraniellen Hauptvenen verursacht werden. Dies führt wohl wiederum zu einer verminderten Perfusion des Hirnparenchyms.

Auch scheint die venöse Abflussstörung mit einem Reflux in den zerebralen Venen einherzugehen. Dies soll wiederum eine erhöhte Eisenablagerung im Gehirn zur Folge haben. Korrespondierend zu diesen venösen Fluss-Anomalien lassen weitere Untersuchungen vermuten, dass auch der zerebrospinale Liquorfluss im Sylvius-Aquädukt gestört ist.

Um die venöse Vaskularisierung des Parenchyms zu erfassen, verwendeten Forscher eine MRT-Variante, das Susceptibility-Weighted Imaging (SWI). Damit lassen sich zerebrale Venen direkt darstellen, indem die Oxygenierung des venösen Blutes ausgenutzt wird.

Eine Arbeitsgruppe um Dr. Guy U. Poloni aus Buffalo in den USA hatte die Methode bei 62 MS-Patienten und 33 gesunden Probanden angewandt. Sie maßen nicht nur das Gesamtvolumen der Hirnvenen, sondern setzten es auch in Bezug auf die Gesamthirnmasse, um Kopfgröße und Hirnatrophie als Störgrößen auszuschalten.

Insgesamt war das venöse Gesamtvolumen bei MS-Patienten um knapp 20 Prozent geringer (67,5 versus 82,7 ml) als bei Gesunden, und auch das Venenvolumen pro Hirnmasse war um dieselbe Größenordnung reduziert. Die stärksten Abweichungen ergaben sich bei Venen unter 0,9 mm Durchmesser. Insgesamt, so die Forscher, legten die Befunde eine schwere Beeinträchtigung des venösen Systems im Gehirn MS-Kranker nahe.

Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kam auch eine italienische Gruppe um Professor Paolo Zamboni aus Ferrara in Italien. Der Angiologe hatte bei 16 Patienten mit schubförmiger MS und acht gesunden Probanden zunächst die venöse Hämodynamik extrakranieller hirnableitender Gefäße wie der Vena jugularis interna per Doppler-Sonografie untersucht. Bei allen 16 MS-Patienten fand er eine venöse Insuffizienz und einen venösen Rückstau, jedoch bei keinem der Teilnehmer ohne MS.

Weiterhin wurden alle Teilnehmer mit einem weiteren MRT-Verfahren untersucht, dem Perfusion-Weighted Imaging (PWI). Dabei wurde in verschiedenen Hirnbereichen der zerebrale Blutfluss, das Blutvolumen sowie die mittlere Durchlaufzeit einzeln erfasst und ausgewertet. Das Ergebnis: Je ausgeprägter die venöse Insuffizienz in der Sonografie war, umso stärker war die per PWI gemessene intrazerebrale Perfusion gestört. Diese Korrelation betraf alle Regionen des Parenchyms der MS-Patienten und war besonders auffällig im Thalamus, Nucleus caudatus, Putamen, Hippocampus und Nucleus accumbens.
Bei venöser Insuffizienz vermehrt Eisen in Läsionen

Bei demselben Studienkollektiv verwendete die Arbeitsgruppe auch das SWI, um vermehrte Eisenablagerungen im Gehirn der MS-Patienten zu detektieren. Es wurde schließlich vermutet, dass ein erhöhter zerebral-venöser Rückfluss zu einem solchen Anstieg beitragen könnte. Die Eisenkonzentrationen wurden dabei in verschiedenen Hirnregionen sowie auch in T1- und T2-gewichteten Läsionen gemessen.

Dabei stellte sich heraus: MS-Patienten mit einer ausgeprägten Insuffizienz der Jugularvenen hatten tatsächlich auch eine hohe Eisenbeladung in den Läsionen. Je ausgeprägter die venöse Insuffizienz war, umso mehr Eisen war in den Läsionen. Dies ist auch klinisch bedeutsam: So fanden andere Forscher, dass hohe Eisenkonzentrationen in der grauen Substanz mit einem ausgeprägten Behinderungsgrad einhergehen.

Ein Team um Dr. Florian Doepp von der Charité konnte in der jetzt publizierten Arbeit die Befunde von Zamboni jedoch nicht bestätigen. Die Berliner Neurologen untersuchten 56 MS-Patienten und 20 gesunde Kontrollpersonen mit extrakranieller sowie transkranieller farbkodierter Sonografie. Sie bestimmten den extrakraniellen venösen Blutfluss, Gefäßdurchmesser und Blutfluss der Venae jugulares internae und der Venae vertebrales. Nur bei einem MS-Patienten fanden sie dabei eine Jugular-Stenose, ansonsten gab es bei keinem Patienten Hinweise auf eine venöse Abflussstörung, auch erfüllte kein MS-Patient mehr als ein Kriterium für eine CCSVI, schreiben Doepp und Mitarbeiter in den aktuellen "Annals of Neurology" (2010; 68:173).

Ein schwedisches Team um Dr. Peter Sundström aus Umea publizierte in derselben Ausgabe der "Annals" ebenfalls eine Studie mit negativem Ergebnis. Die Schweden konnten bei 21 MS-Patienten und 20 Gesunden mit Phasenkontrast-MRT keine Unterschiede beim Blutfluss der Jugularvenen finden (Ann Neurol 2010; 68: 255).

Schließlich kamen auch Neurologen um Dr. Christos Krogias von der Ruhr-Universität Bochum zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Sie publizierten im April eine Arbeit, in der sie bei ihren MS-Patienten zwar häufiger CCSVI-Merkmale als bei Gesunden fanden, dabei erfüllten jedoch nur 20 Prozent der MS-Patienten zwei der neurosonografischen CCSVI-Kriterien (Der Nervenarzt 2010; 81: 740).

Das Team um Krogias warnt daher, die "venöse Hypothese" als ausschließliche Erklärung für MS zu bemühen. Die pathologische Relevanz der bei einigen Patienten beobachteten venösen Veränderungen sei völlig unklar, daher gebe es bislang auch keinen Grund, bei MS-Patienten Stents in die Jugularvenen einzupflanzen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen